von Luis Eggert mit Bildern von Jonathan Eisenberg
Als wir gegen zehn Uhr aus dem Bus stiegen, schlug uns ein eisig-nasser Wind entgegen. Es war Donnerstag, der 8. Februar. Die Böen-artigen Winde machten unsere Regenschirme praktisch nutzlos. Unsere Jacken und Mäntel schützten uns vor den schwierigen Wetterverhältnissen.
Im Nachhinein fühlt sich die Beschreibung wie eine ironische Metapher zu dem an, was darauffolgte.
Denn mit Fug und Recht kann man die politische Großwetterlage, die heute die Hauptstädte Europas und der Welt paralysiert, als schwierig bezeichnen. Wir sollten das bei unserem Besuch im Europäischen Parlament in Straßburg zu spüren bekommen.
Unter den flatternden Flaggen Europas passierten wir die Sicherheitsschleusen. Besonders in diesen unsicheren Zeiten scheinen sie zur notwendigen Schutzbarriere jeder Institution von Bedeutung geworden zu sein. So muss sich Europa und die Europäische Idee gegen Feinde von Innen und Außen schützen. Schon immer, aber heute besonders.
Die architektonisch-prachtvolle Wirkung des Teils des Europa-Viertels, der das Parlament beherbergt, lässt die Hoffnung für ein geeintes Europa und gegen Krieg wieder keimen.
Futuristisch, herrschaftlich, majestätisch: So könnte man ihn beschreiben. Aber nicht im Sinne eines neo-totalitären Palastes eines Öl-Despoten. „Von dem Volk, für das Volk.“, wie man uns mehrmals versichern sollte.
Es ist dieser Moment, wenn man aus dem Säulengang in den ausufernden Innenhof tritt, der einem im Gedächtnis bleibt. Rundherum das Glas der Stockwerke und an ihrem Ende ein aufgewühlter Himmel in einem Dauer-Grau.
Überall eilen Menschen mit Rollkoffern und großen Taschen umher, im Gegensatz zu uns mit dem Blick nach vorne gerichtet. Man konnte nur spekulieren, für welches Land, welche Partei oder welche Abgeordneten sie arbeiten. Aber Europäer waren sie wohl alle. Wie wir.
Wir gingen weiter durch einen der vielen Seiteneingänge in das Gebäude. Eine weitere Schleuse des Besucherinnendienstes. Dort ließen wir unsere Taschen und Jacken zurück und wurden von einer jungen Frau abgeholt. Sie ist Mitarbeiterin im Büro des Abgeordneten, mit dem wir uns dort treffen sollten.
Sie führte uns aus dem gedrängten Besucherraum hinaus in eine weitere bauliche Besonderheit des Parlaments: Eine Stockwerkschlucht, die von vielen Brücken zwischen den einzelnen Etagen überspannt wird. Dazwischen ranken sich tropische Kletterpflanzen senkrechte Seile empor. Sie wurzeln scheinbar in einem „Schiefermeer“: hell-graue Platten, die Wellenbewegungen imitieren.
Die Mitarbeiterin erklärte uns, dass sie für steiles Wachstum stehen – der Gesellschaft, Wirtschaft, Europas und seiner Völker – aus einem Meer. Sehr sehenswert!
Wir waren auf der untersten Etage – die restlichen waren durch Schleusen den Abgeordneten und ihren Mitarbeiterinnen überlassen. Auf der anderen Seite hatte man einen Raum für uns reserviert, der eigentlich für Pressekonferenzen gedacht ist. Die Atmosphäre dort drinnen war entsprechend…formal. Wir nahmen in sperrigen blauen Sitzen Platz und warteten auf den Abgeordneten.
Michael Gahler ist sein Name. Er ist seit 1999 so etwas wie ein direktgewählter Abgeordneter für die Region Südhessen im Europäischen Parlament. Er ist Mitglied der CDU, also der EVP-Fraktion im Parlament. Diese vereint unterschiedliche europäische Parteien gleicher politischer Gesinnung in einer gemeinsamen Fraktion. Außerdem ist er außenpolitischer Sprecher eben dieser und Sonderberichterstatter des Europäischen Parlaments für die Ukraine. Das macht ihn zu einem Gesprächspartner erster Adresse für die Schlagzeilen-dominierenden Themen der letzten Jahre.
So begann er – mit ein wenig Verspätung und nach den obligatorischen lockernden Worten – mit: „Die Situation ist ernst.“
Damit stimmte er in den Tenor derer ein, die ein öffentliches Amt bekleiden und das im Rahmen ihrer Macht Stehende versuchen zu tun, um die turbulenten Fahrwasser des 21. Jahrhunderts zu glätten. Kopfzerbrechen ist da vorprogrammiert.
Unter den Themen, die er ansprach, fanden sich kurze Berichte zu der Europäischen Friedensfazilität für die Ukraine, die Wiederwahl Donald Trumps und die daraus resultierenden sicherheitspolitischen Konsequenzen, die (gemeinsame) Verteidigungspolitik, die Immigration sowie einige von uns thematisierte Themen. Darunter die Klimapolitik und die Problematik um die technologische Souveränität Europas. (Einen ausführlicheren Bericht zu dem politischen Teil findet Ihr in einem separaten Artikel auf unserer Webseite.)
Das Programm sah für uns danach einen kurzen Abstecher auf die Tribüne des tagenden Parlaments vor. Eine Rolltreppe führte uns hoch. Vorbei an einem Fernsehstudio, einer Abgeordnetenbar, und einer riesigen, scheinbaren… Kugel. In ihr befindet sich das Parlament. Die Mitarbeiterin sagte zuvor, dass eben diese spezielle Beschaffenheit ihr den Titel Nukleus der europäischen Demokratie verschafft hat. (Mit ihrer Haselnussholzverkleidung gleicht sie allerdings mehr einer enormen Karamell-Pralinee, aber das nur am Rande.)
Von der Galerie sah man durch die Glasfront des Gebäudes auf das trübe Wasser der Ill. Wir betraten den Nukleus.
Einmal drinnen, liefen wir eine lang-gekrümmte blaue Wand entlang – die Abgrenzung zu der schmalen Besuchertribüne. Sie besteht aus drei Sitzreihen, geht allerdings einmal rund um das Plenum herum. Man mag es kaum glauben, aber es gibt genauso viele Tribünenplätze wie Sitze im Parlament. Von dem Volk, für das Volk.
Wir wurden von einer freundlichen, aber resoluten Dame über den Sozialdemokraten platziert.
Auf der Tagesordnung standen die Votes. Das heißt ein Abstimmungs-Marathon durch ein scheinbar willkürliches Sammelsurium von Resolutionen und entsprechenden Änderungsanträgen der Fraktionen.
Die österreichische Parlamentsvizepräsidentin, Evelyn Regner, die an diesem Tag die Sitzung leitete, setzte ein hohes Tempo an. Debatte und Austausch – die gesamte Politik – hatten vorher stattgefunden, jetzt galt es abzustimmen. Ganze acht Resolutionen, mit je circa fünf Änderungsanträgen, wurden in den 30 Minuten unserer Anwesenheit offiziell der Wille des Europäischen Parlaments.
Diese grunddemokratische Machtausübung verliert im Technokratischen oft seinen Charakter, dennoch darf man gerade beim Europäischen Parlament das Machtpotenzial dahinter nicht vergessen: Was hier in Zusammenarbeit mit den anderen gesetzgebenden Organen der EU erarbeitet und beschlossen wird, hat globale Strahlkraft.
Gerade dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn am 9. Juni wieder ein Europäisches Parlament gewählt wird. Sicher, Deutschland hat seinen Bundestag, Frankreich seine Nationalversammlung und Polen seinen Sejm, aber auch in Brüssel und Strasburg zählt unsere Stimme, auch dort wird unsere Politik gemacht.
Etwas schwer von Begriff mussten wir mitten in der Sitzung aufstehen und gehen. Der nächste Punkt stand auf unserer Agenda an: Strasburg. Und zwar das eigentliche Strasburg, nicht das EU-Viertel. Das Strasburg, mit seinen verzweigten Flussarmen, den verwinkelt-mittelalterlichen Gassen, den Kirchen und – allen voran – das Münster.
Wie ein Polwechsel erschien der Spaziergang von „EU“ zu „Strasburg“: Von Neu zu Alt, von Zukunft zu Vergangenheit.
Wir verbrachten die restliche Zeit mit Essen. Französischem Essen. Noch genauer: tarte flambée (Flammkuchen). Der kulinarische Exportschlager Straßburgs schlechthin.
Vollends zufrieden fuhren wir so wieder zurück ins verregnete Darmstadt. Am nächsten Tag war wieder Schule und Hausaufgaben standen noch an.
Aber Erinnerungen wurden an diesem Tag geschaffen. Gegen das Vergessen, dass dort auch nur Menschen sitzen und Politik machen, dass wir uns mit unserem Erzfeind der Jahrhunderte aussöhnen und ihn lieben lernen können und dass wir nicht allein sind in dieser weiten, weiten Welt.