von Luis (Q2) //

Karlsruhe, 27.02.2024
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. So ist es in Artikel 20 unseres Grundgesetztes niedergeschrieben. Jeder Mensch hat eine andere Vorstellung davon, was das heißen könnte. Was wiederum nicht heißt, dass es keine öffentliche Debatte um die Bedeutungen der Begriffe sowie den Satz in seiner Gesamtheit gibt: Was ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat? Und: Welche Richtlinien leiten sich aus dieser Formel für den Gesetzgeber ab?
Auslegungs- und Definitionsabhilfe bietet hier das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seinem Sitz in Karlsruhe.
Bei der Betrachtung der Rolle und Stellung des BVerfG fällt sofort auf, dass es eine besondere Institution ist: Verfassungsorgan, nicht ganz beziehungsweise nicht nur Gericht, politisch, aber unparteiisch und eine gesellschaftliche Institution.
Und das Gebäude, in dem es seinen Sitz hat, durften wir am 27. Februar besuchen.
Das BVerfG liegt in repräsentativer Lage im Park des örtlichen Schlosses, was nicht unüberraschend kam: Das gläsern-graue Gebäude, klar aus der Zeit des Bauhaus, hätte sich nicht mehr von der klassizistisch-gelben Fassade des Schlosses abheben können. Ein Stilbruch, den man im Fernsehen so noch nicht gesehen hat, obwohl er eine fast schon selbst-ironische Erinnerung an die letzten Überreste unserer monarchistischen Vergangenheit bietet.
Aufgebaut auf den Ruinen des alten Hoftheaters, liegt es heute direkt an einer kleinen gepflasterten Straße, die den Vorplatz des Schlosses von dem Park dahinter abtrennt. Als Erweiterung des Parks liegt in direkter Nachbarschaft der Botanische Garten der Stadt.
Das Gebäude selbst könnte sich nicht mehr von seiner Kulisse abheben: Die vier ursprünglichen Teile sind Würfel aus Stahl, Glas, Aluminium und Holz. Verbunden sind sie über verglaste Gänge, teilweise schweben die Gebäudeteile auf Stelzen über dem Gras des Parks. Manchmal scheint es mit seiner Umgebung verschmelzen zu wollen. Die Architektur wollte eine klare Botschaft vermitteln: Transparenz.
Und die konnte es in den 73 Jahren seines Bestehens in dramatischen, unbeachteten, aber auch längst vergessenen Urteilen unter Beweis stellen.

Dies bietet auch eine mögliche Erklärung für das hohe Ansehen des BVerfG unter den Deutschen und in der Welt.
Transparenz. Das war wohl das Stichwort, unter dem die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes unsere Staatsordnung erdachten und – ungeahnt oder geplant – es zu seiner breiten Unterstützung verhalfen.
Im Grundgesetzt ist nämlich jeder Bürgerin und jedem Bürger das Recht eingeräumt, eine Verletzung der Grundrechte in Form einer Verfassungsbeschwerde direkt beim BVerfG anzuklagen (Art. 93, Abs. 4a und 4b). Das geht auch ohne juristischen Beistand. Teilweise erreichen das Gericht sogar handschriftlich verfasste Briefe. Der Aufwand um die Prüfung dieser ist dementsprechend groß. Allerdings ist die Chance, dass solche Beschwerden angenommen weden, geringer als bei solchen, die mit juristischer Unterstützung verfasst wurden.
Möglicherweise ist es auch seine klare, rechtliche Sprache in mitunter verworrenen und von politischem Taktieren geprägten Debatten, die ihm diese Beliebtheit verschafft haben könnte.
Die Strahlkraft seiner Urteile geht dabei weit über unsere Grenzen hinaus: Wir konnten uns selbst davon überzeugen, als wir die kleine Sammlung von Geschenken anderer Verfassungsgerichte aus aller Welt sahen. Diese kamen u.a. aus Chile, den USA, Süd-Korea, England, Süd-Afrika usw. Auf gemeinsamen Kongressen informiert man sich übereinander und lernt voneinander.
Jedoch sind die Unterschiede groß: Was unter dem Begriff „Verfassungsgericht“ zusammengefasst wird, meint einen viel breiteren Rahmen. Dieser umfasst vielmehr ein sehr grundlegendes Verständnis der Rolle von VerfG in modernen Demokratien: Der Supreme Court in den USA ist dabei verfassungsrechtlich kaum vergleichbar mit dem BVerfG oder dem Süd-Koreas.
Wesentlich bestimmend sind dafür die verschiedenen Rechtsordnungen der jeweiligen Länder: Das common-law, wie es in den USA, England und Süd-Afrika gilt, auf der einen Seite und auf der anderen Seite den römisch-romanischen Rechtskreis, zu dem ganz Festland Europa gezählt werden kann. Sicher, es gibt feine Unterschiede, die aus der sehr eigenen Geschichte und Kultur der einzelnen Länder herrühren, jedoch haben sich zwei Formen der Verfassungsgerichtsbarkeiten in diesen Rechtsordnungen herausgebildet: Die der allgemein zuständigen Gerichte, die neben dem Verfassungsrecht auch andere Aufgabenbereiche haben, beispielsweise hierfür der Supreme Court in den USA. Daneben haben sich die sogenannten „Verfassungsgerichte“, mit ihrer speziellen Zuständigkeit in diesem Feld, etabliert.
Im internationalen Vergleich nimmt das BVerfG dabei noch einmal eine besonders hohe Stellung ein, da es über weitreichende Befugnisse der Einhegung demokratischer Macht verfügt.
Ein Beispiel dafür ist das Urteil zu Klima- und Transformationsfonds, das „Haushaltsurteil“, aus dem letzten Jahr. Dieses wurde in der neueren Debatte um den Schutz des BVerfG vor anti-demokratischen Bewegungen häufig herangezogen, um aufzuzeigen, wie besonders die Unterstützung in Politik und Gesellschaft für das BVerfG ist. Niemand stellte die Rechtmäßigkeit des Urteils auch nur in einem Nebensatz infrage, obwohl durch das Urteil von einem auf den anderen Tag eine 60 Mrd.-Lücke in den Haushalt gerissen wurde. Wie sehr die Ampel-Koalition dadurch an die Grenzen ihrer Kooperationsfähigkeiten getrieben wurde, bleibt offen.
Nur vier Monate vor unserem Besuch am BVerfG, wurde es hier gefällt. Manchmal muss man sich der bloßen Macht, die in diesen Gebäuden der Verfassungsorgane (Das Bundeskanzleramt, das Reichstagsgebäude, Schloss Bellevue …) vereint ist, bewusstwerden, um sie vollkommen zu verstehen.
Eine freundliche Dame, Mitarbeiterin der Bundesverfassungsrichterin, die wir später treffen sollten, und selbst auch Richterin, führte uns durch das Gebäude.
Im Foyer sahen wir uns die Ahnengalerie eines Teils der Richterinnen und Richter des BVerfG an, gefolgt vom kleinen Sitzungsaal, der neben einem großen Konferenztisch und schweren Ölgemälden vergangener Präsidentinnen und Präsidenten des BVerfGs nichts enthielt. In ihren scharlachroten Roben und weißen Halskrausen – die man Jabot nennt – schauen sie bedächtig, manchmal freundlich, manchmal einschüchternd auf die Anwesenden. Wir gingen weiter über das Gangsystem zwischen den Gebäudewürfeln in den hinteren Teil: Dort befindet sich über der hauseigenen Bibliothek eine kleine Ausstellung des BVerfG mit historischen Dokumenten und Artefakten aus seiner 73-jährigen Geschichte. Ein weiterer Teil der Ahnengalerie der Richterinnen und Richter hängt ebenfalls hier. So auch eine Besondere: Dr. Erna Scheffler von 1951 bis 1963 Richterin am BVerfG und damit erste Frau in diesem Amt. Damals noch Kuriosität unter einem rein Männer dominierten Gericht, so sind heute 9 der 19 Richterinnen und Richter des BVerfG Frauen.


Wir kehrten in den ersten Stock des vorderen Gebäudeteils zurück: Der große Verhandlungssaal, gut bekannt aus etlichen Fernsehübertragungen. Er ist heller als man denkt – wieder nach dem Credo der Transparenz, meint man von der Richterbank einen 180-Grad-Blick der Umgebung zu haben.
Auf den Stühlen der Anwaltschaft – nicht auf der Besuchertribüne hinter uns – durften wir Platz nehmen. Das Rednerpult vorne, unterhalb der Richterbank, blieb erst einmal leer, weil unsere Gastgeberin – selbstverständlich vielbeschäftigt – noch auf sich warten ließen.
So konnten wir zunächst ihrer Mitarbeiterin ein paar Fragen stellen, bevor sie schließlich zu uns in den Saal trat: Frau Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein, seit 2020 am BVerfG Richterin im Zweiten Senat.
Sie ist zwar nur eine von 16, der Großteil der Entscheidung wird jedoch weder mit dem gesamten Gericht noch in den halb so großen Senaten getroffen, sondern in den sogenannten „Kammern“, bestehend aus drei Richterinnen und Richtern.
Nur in den Fällen, in denen man sich nicht einig wird oder in denen großes öffentliches Interesse besteht, werden Entscheidungen in den Senaten getroffen.
Der einzelnen Richterin beziehungsweise dem einzelnen Richter fällt damit auch eine höhere Entscheidungskompetenz und Verantwortung zu, wobei diese Aufgabenteilung gleichzeitig die Effizienz erhöht, ohne ihre Qualität zu reduzieren.
Sie an dem Rednerpult und wir im Publikum, so stellten wir ihr über eine Stunde lang alle möglichen Fragen. Und sie nahm sich die Zeit für uns, erklärte und ging sehr geduldig auf unsere Fragen ein. Man merkte ihr an, dass sie Erfahrung darin hat, die komplexen und verworrenen Sachverhalte der juristischen Materie auch für ein nicht uninteressiertes, aber unwissendes Publikum wie uns, zu erklären.
Nicht nur um einige Erfahrungen und Wissen reicher, sondern auch mit ein wenig mehr Begeisterung für und Verständnis um unsere Demokratie traten wir schließlich den Heimweg in unser beschauliches Darmstadt an.